Intern
Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Weber

Caen 2022

Caen Seminar 2022

Bericht über das Caen Seminar 2022

I. Corona-Pandemie, Klimawandel, Populismus, Soziale Medien – und nun ein bisher völlig unvorstellbarer Krieg in Europa: all dies sind gewaltige Herausforderungen für die Gesellschaft und damit auch für das Recht. Mit diesen Themen hat sich vom 16. bis 20. Mai eine Gruppe deutscher und französischer Studierenden in Caen, der Hauptstadt des normannischen département Calvados und Partnerstadt Würzburgs, beschäftigt.

Wie war es dazu gekommen? Seit nunmehr über 50 Jahren organisieren die Universitäten Würzburg und Caen alle zwei Jahre ein deutsch-französisches Seminar, das durch die Juristen Alumni Würzburg, die Juristische Fakultät und die Studienzuschusskommission, das Deutsch-Französische Jugendwerk und die Universität Caen gefördert und seit 20 Jahren von Professor Weber organisiert wird. Ziel dieses Seminars ist der länderübergreifende fachliche und persönliche Austausch zwischen Deutschen und Franzosen. Besonders eindrücklich bewusst wurde uns seine Bedeutung beim Besuch des Mémorial de Caen, einem Museum und einer Gedenkstätte für die Leiden des 2. Weltkriegs und der Shoah, – noch vor weniger als 80 Jahren wären wir als Deutsche und Franzosen wohl miteinander verfeindet gewesen.

Im Zentrum unserer Vorbereitung und Aufmerksamkeit standen aber zunächst inhaltlich-juristische Aspekte. Je fünf Deutsche und Franzosen arbeiteten Vorträge aus, die wir im Laufe des Seminars halten sollten. Diese wurden auf deutscher Seite betreut von den Professoren Bien, Schmahl, Weber und Zieschang. Außerdem hatten wir uns in Würzburg – soweit dies unter den noch herrschenden Einschränkungen möglich war – bereits getroffen und die Zugfahrt für erste Diskussionen genutzt.

II. Wir verbrachten nun in dieser Gruppe aus insgesamt elf deutschen und elf französischen Studierenden – Zweitsemester bis Examenskandidaten –, den betreuenden Professoren und Assistenten beider Universitäten sowie Frau Dr. Linhart, die in Caen Gespräche zur Vertiefung der Partnerschaft beider Fakultäten über mögliche Kooperationen im Rahmen des Fachsprachenprogramms führte, die Woche in ganz verschiedenen Kontexten – dem inhaltlich-professionellen und dem persönlich-freizeitlichen.

Einerseits gab es eine Reihe Veranstaltungen zu juristischen Themen. Dabei standen die studentischen Vorträge und anschließenden Diskussionen, die sich alle an den aktuellen Herausforderungen des Rechts orientierten, im Vordergrund: Hierbei ging es um die Einführung des neuen § 127 StGB (Betreiben krimineller Handelsplattformen im Internet) und die französischen Lösungen für vergleichbare Probleme; die konkurrenzrechtlichen Herausforderungen, die sich mit Blick auf die Internetgiganten („GAFAM“: Google, Amazon, Facebook, Apple, Microsoft) stellen; die gegenwärtigen Herausforderungen der Demokratie, namentlich Populismus und stärkere Bürgerbeteiligung in Frankreich sowie die verschiedenen „Krisen der Repräsentation“, exemplifiziert an der deutschen Debatte um Absenkung des Wahlalters und Einführung von Paritätsregeln; die neuen Rechtsfragen und die jüngste Rechtsprechung betreffend den Umwelt- und Klimaschutz; schließlich die pandemiebedingten Herausforderungen für das Arbeitsrecht durch Betriebsschließungen und für den Sozialstaat, der in Frankreich noch deutlich aktiver ist als in Deutschland. Dabei wurden immer wieder sehr interessante Parallelen und Unterschiede zwischen den Regelungsansätzen der beiden Länder entdeckt.

Daneben gab es Gruppenarbeiten zu weiteren rechtsvergleichenden Themen, die (auf deutscher Seite) von den Assistenten Johannes Fischer (Lehrstuhl Prof. Zieschang), Florian Heimann (Lehrstuhl Prof. Bien) und Jules Masuku Ayikaba (Lehrstuhl Prof. Feichtner) vorbereitet worden waren und begleitet wurden.  Wir beschäftigten uns dabei mit der Behandlung der Sterbehilfe in Deutschland und Frankreich; mit den Konsequenzen, die in Deutschland aus dem Trennungs- und Abstraktionsprinzip folgen und die in Frankreich völlig andere sind, da es dieses Prinzip gar nicht gibt; mit dem großen Problem der Kinderarbeit in der Demokratischen Republik Kongo, das sich auch nicht durch ein einfaches Verbot lösen lässt; sowie abermals mit wettbewerbsrechtlichen Fragen, die sich in Bezug auf die Internetriesen ergeben.

Außerdem setzten wir uns mit dem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit in Europa und Afrika auseinander, wobei wir die „Rolle“ eines bestimmten Staates übernahmen und so sehr verschiedene Perspektiven einnehmen konnten und mussten. Dies war maßgeblich von Prof. Dr. Yves Manzanza Lumingu vorbereitet worden, einem früheren Doktoranden von Professor Weber, der jetzt sowohl an mehreren Universitäten im Kongo als auch in Würzburg tätig ist. Es galt hierbei zu überlegen, inwiefern die internationale Durchsetzung von bestimmten, divergierenden Vorstellungen des Begriffs der Rechtsstaatlichkeit mit internationaler Solidarität im Rahmen von Entwicklungshilfe vereinbar ist: Darf finanzielle Unterstützung bei tatsächlichen oder vermeintlichen Rechtsstaatlichkeitsmängeln gekürzt werden? Dieses Thema hat ja auch innerhalb der EU große Bedeutung erfahren, auch wenn dort vielleicht andere Maßstäbe gelten können und müssen als auf internationaler Ebene.

Andererseits hatten wir auch viele Möglichkeiten zum persönlichen und kulturellen Austausch. Dies ermöglichte zum einen das Rahmenprogramm: Wir besichtigten die Stadt und das Umland; dazu gehörte auch eine Einladung in das wunderschöne Rathaus Caens, das sich in einem ehemaligen, ursprünglich von Wilhelm dem Eroberer gegründeten Kloster, der Abbaye aux hommes, befindet. Außerdem sahen wir uns einen Tanz im Theater der Stadt an und besuchten das bereits erwähnte Mémorial.

Zum anderen hatten wir aber auch genügend Zeit für selbstorganisierte Unternehmungen, vor allem an den Abenden. Dies nutzten wir etwa für einen Ausflug an die Kanalküste zum Essen und um gemeinsamen das Meer zu genießen. Diese zwanglosen Treffen führten denn von ganz allein zu unvergesslichen Erlebnissen, wie zum Beispiel langen Gesprächen über die deutsche und französische Politik (die Wahlen zur Nationalversammlung standen unmittelbar bevor) und den Einfluss der jeweiligen Verfassung und Traditionen darauf. Ganz zu schweigen von der Erweiterung unseres Wortschatzes, denn die Gespräche fanden zum allergrößten Teil in französischer Sprache statt.

III. Einen besonderen Höhepunkt bildete schließlich ein Planspiel zum humanitären Völkerrecht („RaidCross“), das ungewollt ganz besondere Aktualität erlangt hat.

Hierbei schlüpften die Studierenden in die Rolle von Staatsbürgern des fiktiven Staates Haddar, der sich in einem bewaffneten Konflikt mit dem Nachbarstaat Deldar befindet. Dazu bekamen wir Pässe von Haddar, die wir im Laufe des folgenden Nachmittags auf jeden Fall behalten sollten. Anschließend durchliefen wir verschiedene Stationen:

Die erste war gleich die eindrucksvollste: Wir waren Kriegsgefangene und wurden etwa eine halbe Stunde lang in einem Raum festgehalten. Obwohl uns allen klar war, dass wir uns in einem Spiel, einer harmlosen Situation also befanden, war dies doch erstaunlich bedrückend.

Für die nachfolgenden Stationen wurde wir in kleinere Gruppen aufgeteilt und führten Rollenspiele durch, bei denen es um sehr ernste Fragen ging: Etwa darum, welche Objekte legitime Ziele militärischer Gewalt sein können oder wie Verwundete in Kriegssituationen zu behandeln sind. Schließlich „erlebten“ wir noch die Gefahren, denen zivile Helfer und die Bevölkerung in militärischen Auseinandersetzungen ausgesetzt sind.

Im Anschluss fand, gewissermaßen als „Auflösung“ der rechtlichen Fragen, eine Gerichtsverhandlung statt, bei der die Professoren über die Verletzungen des humanitären Völkerrechts im Laufe der Simulation urteilten. So lernten wir in diesem Rahmen die grundlegenden Prinzipien des humanitären Völkerrechts kennen: das Prinzip der Unterscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten, die besonders geschützten Gruppen (Zivilbevölkerung, Verwundete, Kriegsgefangene), den (auch hier geltenden) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der in besonderen Ausprägungen auch das Verbot bestimmter Methoden der Kriegsführung und Waffen (z.B. solcher, die „unnötiges Leiden“ verursachen) umfasst, und schließlich den Grundsatz der Strafverfolgung von Kriegsverbrechen nach dem Weltrechtsprinzip.

IV. Die großen gesellschaftlichen Herausforderungen haben wir in dieser Woche sicher nicht lösen oder auch nur vollständig begreifen können. Doch haben wir eine Idee bekommen von den teilweise sehr unterschiedlichen Regelungsansätzen und auch tatsächlichen Voraussetzungen in Deutschland und Frankreich, so dass wir sicher ein tieferes Verständnis für die Schwierigkeiten und Möglichkeiten der potentiellen Lösungen bekommen haben und sicher weiter über diese Fragen nachdenken. Und nicht zuletzt haben wir alle eine unvergessliche, wenn auch (auf gute Weise) anstrengende Woche erlebt und sind zu einer Gruppe zusammengewachsen.

Manoël Johr

Programm Caen Seminar 2022