Intern
Prof. Dr. Florian Bien

Treuerabatte: EuGH argumentiert im Tomra-Urteil (noch) nach dem per se-Ansatz

23.04.2012

EuGH, Urteil vom 19.4.2012 – Rs. C-549/10 P –Tomra

Europäischer Gerichtshof (Foto: J. H.)

In ihrer Entscheidung vom 29.3.2006 (COMP/E-1/38.113 – Prokent-Tomra) stellte die Kommission einen Verstoß gegen das Missbrauchsverbot einer marktbeherrschenden Stellung durch die Tomra Systems ASA und ihre nationalen Tochtergesellschaften (im Folgenden: Tomra) fest. Tomra bietet Lehrgutannahmeautomaten (reverse vending machines, RVM) auf mehreren nationalen Märkten der EU und des EWR an. Die Entscheidung betraf die Märkte für RVM in Deutschland, den Niederlanden, Österreich, Schweden und Norwegen im Zeitraum von 1998 bis 2002. Die Kommission sah eine Einschränkung des Wettbewerbs durch Exklusivvereinbarungen, individuell angepasste Mengenverpflichtungen und individuell angepasste rückwirkende Rabattpläne als gegeben an. Die Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung hat das EuG in seinem Urteil vom 9.9.2010 (T-155/06 - Tomra Systems u. a./Kommission) vollständig zurückgewiesen. Der EuGH weist nun in seinem Urteil vom 19. April 2012 das Rechtsmittel Tomras gegen das Urteil des EuG zurück. Er folgt damit den Schlussanträgen des Generalanwalts Mazák vom 2. Februar 2012.

Der EuGH geht insbesondere auf folgende Fragen ein: (1) Der EuGH prüft, inwieweit eine wettbewerbswidrige Absicht entscheidungsrelevant ist. Er wiederholt die Aussage des EuG, dass es sich bei der missbräuchlichen Ausnutzung einer beherrschenden Stelllung um einen objektiven Begriff handle. Der Nachweis einer Absicht sei von der Kommission nicht zu erbringen. Gleichwohl seien bei der Beurteilung alle relevanten tatsächlichen Umstände zu berücksichtigen und somit auch subjektive Faktoren zur Bewertung der Geschäftsstrategie zu prüfen. (2) Außerdem geht der EuGH darauf ein, welcher Grad an Marktabschottung notwendig ist, um ein Verhalten als missbräuchlich qualifizieren zu können. Er bestätigt die Aussagen des EuG, dass die Bestimmung einer Abschottungsgrenze künstlich wäre; im vorliegenden Fall liege die Abschottung bei 40% und sei so rechtlich hinreichend erwiesen. Die Einrede, dass der nicht-abgeschottete Marktanteil noch ausreichend Wettbewerb für eine begrenzte Zahl von Konkurrenten gewähre, verwirft der EuGH. Vielmehr käme Wettbewerb im abgeschotteten Teil Verbrauchern sowie Wettbewerbern zugute und es sei nicht Sache des beherrschenden Unternehmens zu bestimmen, wie viele Wettbewerber auf dem Markt konkurrieren könnten. (3) Weiter ist nach Auffassung des EuGH im vorliegenden Fall kein Kosten-Preis-Vergleich zur Bewertung der gewährten Rabatte notwendig. Ebenso sei keine Analyse der konkreten Auswirkungen der Rabatte erforderlich, es genüge der Nachweis, dass das fragliche Verhalten wettbewerbsbeschränkende Wirkung haben kann. Die Prioritätenmitteilung aus dem Jahr 2009 sei nicht einschlägig.

Diese letzte Aussage macht deutlich, dass der EuGH in seinem Urteil (noch) an dem sogenannten per se-Ansatz festhält. Da die Prioritätenmitteilung, die das Vorgehen der Kommission nach dem more economic approach beschreibt, erst drei Jahre nach der Entscheidung in der Rechtssache Tomra veröffentlicht wurde, ist dieses Vorgehen wohl begründet. Die in ersten Reaktionen aus der Praxis beschriebene Kluft bzw. das Spannungsverhältnis zwischen „orthodoxem“ Gerichtshof (per se-Ansatz) und „ökonomisch“ argumentierender Kommission (effects based-Ansatz) spiegelt die Realitäten nicht wider. Tomra kritisierte gerade, dass die Kommission keinen Kosten-Preis-Vergleich durchführte.

Der EuGH lässt gleichwohl eine Gelegenheit verstreichen, sich zu dem neuen Ansatz zu äußern und die Rechtssicherheit in Bezug auf Treuerabatte zu erhöhen. In zukünftigen Urteilen zu Entscheidungen, die nach Veröffentlichung der Prioritätenmitteilung entstanden sind, wird der EuGH nicht umhin kommen, zum neuen Vorgehen der Kommission Stellung zu beziehen. Fraglich ist, inwieweit dann die Aussagen zu Absicht und zum Grad der Marktabschottung aus dem Tomra-Urteil Bestand haben werden.

(PRu)

Der Tatbestand der Treuerabatte ist auch Gegenstand des Forschungsprojekts Preisbezogene Behinderungsmissbräuche im ökonomisierten Unionskartellrecht.

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