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Der erste Vortrag der Vortragsreihe ‘Neue Gesichter der deutschen Strafrechtswissenschaft’

25.05.2022

Dr. Stefan Ast mit dem ersten Vortrag der Reihe zum Thema ‘Handlung – Norm – Vorsatz’.

Am 25. März 2022 um 19:00 Uhr fand der erste Vortrag der online stattfindenden Reihe ‚Neue Gesichter des deutschen Strafrechts‘ statt. Der Referent, Dr. Stefan Ast, trug zu ‚Handlung – Norm – Vorsatz‘ vor. In den letzten Jahren hat sich Herr Ast eingehend mit diesem Thema befasst und bereits herausragende Werke, wie ‚Normentheorie und Strafrechtsdogmatik‘ und ‚Handlung und Zurechnung‘ veröffentlicht. Der Vortrag war eine zusammenfassende Präsentation seiner Arbeiten. Die vier Kommentatoren, Prof. Urs Kindhäuser von der Universität Bonn, Prof. Yuki Nakamichi von der Waseda Universität, Japan, Prof. Xuan Chen von der Renmin Universität, China und Prof. Shiyang Li von der Zhejiang Universität, China gingen im Anschluss jeweils in einem Kommentar auf den Vortrag von Herrn Dr. Ast ein. Der Vortrag wurde von Professor Su Jiang von der Peking Universität moderiert. Darüber hinaus haben Prof. Eric Hilgendorf von der Universität Würzburg und Prof. Norio Takahashi von der Universität Waseda, Japan teilgenommen, die Veranstaltung begrüßt und mitdiskutiert.

Der Vortrag wurde von Dr. Zhiwei Tang von der Universität München und Chang Liu, Doktorand an der Universität Würzburg, gedolmetscht

Das Hauptreferat

Dr. Stefan Ast bedankte sich zu Beginn bei den Organisatoren für die Einladung zur Vortragsreihe, bei den zum Kommentieren bzw. zum Diskutieren erschienenen Gästen und bei allen teilnehmenden Zuhörern. Er erklärte, dass er sich in seinem Vortrag auf den Handlungsbegriff, den Tatbegriff, die diesbezüglichen Schulen und Doktrinen und die relevanten grundlegenden Konzepte und Beurteilungsmaßstäbe in diesem Zusammenhang konzentrieren werde.

Herr Ast begann mit dem unterschiedlichen Verständnis der hegelianischen und der kausalistisch-finalistischen Handlungslehre. Er erörterte die theoretischen Grundlagen, Auswirkungen und Mängel beider Theorien. Weiter wies Herr Ast darauf hin, dass es bei dieser Divergenz nicht nur um die Beziehung zwischen Norm und Handlung gehe, sondern auch um das grundlegende Verständnis von Handlung, nämlich was Handlung überhaupt bedeute. In diesem Zusammenhang schlug er die Verwendung des Konzepts der ‚Tat‘ vor, um die Probleme der beiden oben genannten Ansätze zu vermeiden. Er ging auf die Beziehung zwischen Handlung und Tat ein und diskutierte insb. die Möglichkeit der Vermeidbarkeit als Kriterium als Handlungskriterium. Aus den Unterschieden zwischen Verboten und Geboten kam er zu dem Schluss, dass die Zuständigkeitsregel nicht gleichermaßen für die Unterlassungsdelikte und deren Erfolge gelten könne und begründete, warum dies für die Unterlassungsdelikte notwendig sei, bei den Handlungsdelikten jedoch nicht. Herr Ast argumentierte, dass der Vorsatz ein neben dem Normverstoß gleichberechtigter Zurechnungsgrund sei. Im Strafrecht sollten nur Wollen und Sollen als Zurechnungsgründe anerkannt werden. In eigenen Worten fasste Herr Ast seine Theorie folgendermaßen zusammen: ‚Anhand der Vorsatzlehre zeigt sich somit, wie sich die Handlungslehre auf die Dogmatik des Allgemeinen Teils auswirkt. Das gilt, wie angedeutet, gleichermaßen für die Lehren von der Kausalität, vom Unterlassen, der Fahrlässigkeit, dem Versuch und, wie auszuführen wäre, von der Beteiligung. Während in der heutigen Dogmatik die einzelnen Teillehren meist fragmentiert behandelt werden, kann die Handlungslehre deren Grundlage sein und sie zu einem Gesamtbild zusammenzuschließen. Vorausgesetzt ist freilich, dass man sich von dem Modell der Handlung als Körperbewegung verabschiedet, denn es ist zu wenig komplex, um die vielfältigen Aspekte von Handlungen zu erfassen.‘

Kommentare und Diskussionen

Dr. Asts Vortrag war konstruktiv und behandelte einen Bereich der strafrechtlichen Dogmatik, der schon immer sehr umstritten war. Daher haben die vier Kommentatoren, während sie die Bedeutung von Dr. Asts Beitrag anerkannten und sehr hoch bewerteten, viele kritische Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven gestellt. Aus Zeitgründen hat Herr Ast nur auf einige dieser Fragen antworten können.

Professor Kindhäuser freute sich, dass Herr Ast sich mit diesem Thema beschäftigt an der Vortragsreihe beteiligt hatte, lehnte seinen Ansatz jedoch ab, dass sich die allgemeine Straftatlehre von dem Modell der Handlung als Körperbewegung zu verabschieden habe. Er argumentierte, dass sich strafrechtliche Verantwortung nur unter Bezugnahme auf körperliches Verhalten begründen lassen und dass nur ein intentionaler Handlungsbegriff angemessen sein könne. Anschließend erläuterte Herr Kindhäuser sein Modell ‚Straftat als Normwiderspruch‘ und erklärte den Unterschied der zwei Funktionen des Vorsatzes als Zurechnungskriterium und als Gegenstand der Unrechtsbewertung.

Professor Yuki Nakamichi stimmte Dr. Ast im Grundsatz zu, warf aber aus drei verschiedenen Perspektiven Fragen auf. Erstens, ob sein neues Konzept „Handlung als Ergebnis des Zurechnungsurteils“ zu einer Neugestaltung des Deliktaufbaus führen würde. Zweitens, welche Rolle die Sorgfaltspflicht spiele, um einem pflichtwidrig Handelnden einen Erfolg zuzurechnen und wie die konkrete Sorgfaltspflicht für den fahrlässigen Täter in Herrn Asts System festgelegt werden solle. Drittens, Herr Ast habe behauptet: „Der Vorsatz des Unterlassens setzt deshalb voraus, dass der Handelnde diese Zuständigkeitszuweisung erkennt.“ Herr Nakamichi fragte daraufhin, was der Täter wissen müsse, damit er die Zuständigkeitszuweisung erkennen könne und wie festgelegt werden könnte, dass er diese Kenntnis hat und was passieren würde, wenn der Täter nicht weiß, dass er zuständig ist.

Laut Prof. Xuan Chen befasste sich der Vortrag von Herr Ast mit den Grundbegriffen der Verbrechenslehre. Man könne über jeden der drei Begriffe ‚Handlung‘, ‚Normen‘ und ‚Vorsatz‘, ein großes Buch schreiben. Er kommentierte den Vortrag hinsichtlich zweier Aspekte. Er fing mit der Bedeutung der Handlungslehre im Strafrechtssystem an. Mit einem Vergleich zu den chinesischen Theorien hat Herr Chen zwei verschiedene Richtungen der Gestaltung des Deliktaufbaus vorgestellt – eine hat eine Praxisorientierung, während die andere auf wissenschaftliche Forschung ausgerichtet ist. Das Werk von Herrn Ast zählt nach Ansicht von Herr Chen zum Zweiten, welche die grundlegenden Beziehungen zwischen verschiedenen Erkenntnissen und Prinzipien aufzeige und sei durchaus nötig. Herr Asts Vorschlag Tun und Unterlassen unterschiedlich zu behandeln fand Herr Chen innovativ, und stimmte diesem auf methodischer Ebene zu. An der Theorie selbst hat Herr Chen Xuan jedoch zwei Punkte angezweifelt. Erstens scheint der persönliche Wille bzw. die Zielsetzung des Täters vielleicht selbst bei Handlungsdelikten nicht ausreichend zu sein, um allein danach festzulegen, wo die Grenze der Zuständigkeit liegt, insb. wenn es sich um malum prohibitum handelt. Zweitens bestehe ein deutlicher Unterschied zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit in Bezug auf den Grad der Normverletzung. Dass der Täter die Tatsache einer Rechtsgutsverletzung erkennt, spiegelt jedoch nicht zwingend einen hohen Grad eines Normverstoßes wider.

Prof. Shiyang Li kommentierte unter neun verschiedenen Aspekten den Vortrag von Dr. Ast, darunter z.B. die Bedeutung der Handlungslehre, das Verständnis von Verbotsnormen, den Unterschied zwischen Verbot und Gebot, die Ex-ante- und Ex-post-Beurteilung usw. und legte sein eigenes Verständnis der entsprechenden Punkte dar.

Als Antwort auf die Kritik von Prof. Kindhäuser betonte Herr Ast, dass die Körperbewegungen auch in seiner Theorie einen wichtigen Platz einnehmen würden. Der Schwerpunkt solle aber auf der Rolle liegen, die die Körperbewegung in der Handlungslehre spiele. Es gebe drei verschiedene Arten der Verbindung zwischen Körperbewegung und Handlung und man solle funktional beurteilen, was wir erreichen wollen oder was von einer Handlungslehre gebraucht wird. Auf die Frage von Prof. Nakamichi antwortete er, dass er den aktuelle dreistufige Deliktsaufbau weder ändern, noch ein völlig neues schaffen wolle und, dass seine Theorie das bestehende System nicht verändern, sondern nur rechtfertigen würde. Was die Frage des Unterlassens betrifft, so ist Herr Ast der Ansicht, dass an die Kenntnis des ‚Täters‘ auf einer abstrakten Ebene ein höherer Maßstab anzulegen ist, damit beurteilt werden kann, ob die Kenntnis auf dieser Ebene gleichwertig ist.

Der Moderator, Professor Su Jiang, bedankte sich abschließend bei allen, die an der Veranstaltung teilgenommen hatten. Er war der Ansicht, dass es natürlich mehr Zeit bräuchte, um ein so großes und grundlegendes Thema umfassend zu erörtern und bedauerte, dass die Zeitverschiebung zwischen den drei Ländern dies bei dieser Diskussion nicht zuließ. Die Wissenschaftler aus den drei Ländern China, Deutschland und Japan hätten jedoch eingehend über das Thema diskutiert. Es sei ein sehr sinnvoller Austausch gewesen und er freue sich auf die Möglichkeit sich in Zukunft mehr, vor allem wieder offline, auszutauschen.

Eine ausführlichere Zusammenfassung des Vortrags in Chinesisch ist hier abrufbar.

Weitere Vorträge der Reihe sind hier zu finden.